Nachdem in einem für die Mandantschaft 2017 eingeleiteten Klageverfahren beim Sozialgericht Hamburg immer noch nichts passiert ist, greife ich zum Telefonhörer und rufe beim Gericht an.

Aktenberge

Ich erlaube mir die höfliche Nachfrage, warum trotz der schon im November 2017 eingereichten Klage bislang weder ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben wurde - wie es der Üblichkeit entspricht - noch ein Gerichtstermin anberaumt wurde. Daraufhin wird mir berichtet, es seien pro Richter teilweise 600 Verfahren gleichzeitig zu bearbeiten, es gäbe nicht genug Richterstellen. In diesem Jahr gäbe es definitiv keinen Termin mehr, man sei schließlich immer noch mit den Verfahren aus 2014 beschäftigt, zu denen man jetzt (5 Jahre später) käme. Wie erkläre ich das jetzt dem Mandanten... und was wohl der Deutsche Richterbund zu dieser Arbeitsbelastung seiner Mitglieder sagt? Wie soll ein Richter 600 Fälle gleichzeitig in adäquater Geschwindigkeit bearbeiten können?

Ein gleiches, trauriges Bild ergibt sich bei einem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern (dieses Bundesland ist Schlusslicht in der Verfahrensdauer-Statistik), hier wurde auf eine im Juni 2014 eingereichte Klage der erste Gerichtstermin für Juni 2019 angesetzt. Auch beim Sozialgericht Lüneburg warte ich für eine anderen Mandanten auf eine im Oktober 2016 eingereichte Klage ebenfalls auf einen ersten Termin, obwohl die Sache "längst ausgeschrieben" ist.

Die nach wie vor unzumutbare Verfahrensdauer vor den Sozialgerichten (bis zum Termin!) ist im Jahr des Grundgesetzes ein echter Skandal- Art. 19 Absatz 4 des Grundgesetzes enthält das sog. Gebot effektiven Rechtsschutzes. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht schon 2012 ausgeführt:

BVerfG, Beschluss vom 13. August 2012 – 1 BvR 1098/11: Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Es obliegt in ihrem Zuständigkeitsbereich den Ländern, für eine hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, damit diese den Anforderungen des Art. 19 Abs 4 S 1 GG genügen können (vgl BVerfG, 12.12.1973, 2 BvR 558/73, BVerfGE 36, 264).

Da sich seit der BVerfG-Entscheidung bis heute an den Verfahrensdauern der Sozialgerichte nichts durchgreifend geändert hat, muss man darauf schließen, dass der Politik am grundgesetzlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht viel gelegen ist.

Ein schöner Verfassungsartikel und eine schöne BVerfG-Entscheidung sind nichts wert, wenn sie nicht umgesetzt werden.

Nun gibt es ja immerhin die Statistiken zur durchschnittlichen Verfahrensdauer bei den Sozialgerichten (Link könnte sich ändern, dann bitte googlen nach "Statistik Verfahrensdauer Sozialgerichte"). Die dort angegenben allgemeinen "durchschnittlichen Verfahrensdauern" sind eher irreführend, weil sich die Verfahren häufig vorzeitig durch Anerkenntnis (Klage war offensichtlich berechtigt, Behörde lenkt freiwillig ein), Klagrücknahme (z.B. Klage offensichtlich ohne Erfolgsaussicht) oder Eintritt sonstiger Umstände erledigen.

Viel interessanter und aussagekräftiger ist die durchschnittliche Verfahrensdauer der streitigen Verfahren, die bis zur mündlichen Verhandlung geführt werden, also durch Urteil entschieden werden.

Da mündliche Verhandlungen i.d.R. 4-6 Wochen vor dem Urteil stattfinden, kann man darauf rückschließen, wie lange es dauert, bis die Menschen in streitigen Verfahren einen Termin zur mündlichen Verhandlung beim Sozialgericht erhalten und ihre/n Richter/in sehen. In Hamburg offenbar durchschnittlich 34 Monate, also 2,8 Jahre.

Es ist untragbar, welche Verfahrensdauern als "normal" in Kauf genommen und den Menschen in der Jusitz zugemutet werden. Und da wundern sich noch Politiker über unvorteilhafte Wahlergebnisse?

Betroffenen langer Gerichtsverfahren kann daher nur dringend empfohlen werden, beim Gericht eine sog. Verzögerungsrüge zu erheben, sobald man feststellt, dass sich mehrere Monate lang nichts mehr regt oder das Gericht mitteilt, dass "derzeit noch vorrangige Verfahren bearbeitet werden", gebeten wird, "von Sachstandsanfragen abzusehen" o.Ä. Für die Verzögerungsrüge genügt ein einfaches, mit Aktenzeichen versehenes Schreiben an das Gericht:

Hiermit erhebe ich V e r z ö g e r u n g s r ü g e nach § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG, da Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird.

Die Verzögerungsrügen werden (immerhin!) statistisch erfasst. Für jeden Monat der Verzögerung kann eine Entschädigung von 100,00 € geltend gemacht werden. Die Entschädigung sollte man nach Abschluss des verzögerten Gerichtsverfahrens zunächst a u ß e r g e r i c h t l i c h geltend machen, in Hamburg können entsprechende Anträge auf Entschädigung bei folgender Stelle gestellt werden (Stand 2022):

Behörde für Justiz und Verbraucherschutz, Justitiariat, Drehbahn 36, 20354 Hamburg " "Hiermit stelle ich wegen der überlangen Dauer des Gerichtsverfahrens [Aktenzeichen, letztes Schreiben des Gerichts beifügen] einen Antrag auf Entschädigung und bitte um Prüfung."

In der Justizbehörde schaut man sich dann (hoffentlich zeitnah) die Verfahrensakte des Gerichts an und ermittelt die Monate, in denen das Verfahren vom Gericht offenbar nicht ordnungsgemäß betrieben wurde. Die Monate x 100,00 € ergibt dann die Entschädigung. Wird eine Entschädigung von der Justizbehörde unrechtmäßig verweigert oder zu wenige Monate angerechnet, kann eine Entschädigungsklage beim Landessozialgericht erhoben werden. Diese darf jedoch frühestens ein halbes Jahr nach Erhebung der Verzögerungsrüge eingereicht werden.

Bei der Einreichung von Entschädigungsklagen beim Landessozialgericht wegen überlanger Verfahrensdauer ist allerdings Vorsicht geboten. Klageverfahren auf Entschädigung sind nicht gerichtskostenfrei. Verliert man also die Entschädigungsklage, zahlt man Gerichtskosten. Entschädigungsklagen können daher durchaus 'nach hinten losgehen'.

Ein Blick in Datenbanken (Juris/Sozialgerichtsbarkeit) zeigt überdies, dass nicht nur die Gerichtsverfahren häufig überlang sind, sondern auch die Urteile der Landessozialgerichte zu Entschädigungen nach § 198 GVG. Hier zeigt sich die gewisse Absurdität dieser Verfahren - seitenlang befassen sich die Landessozialgerichte damit, ob eine Verzögerung eingetreten und eine Entschädigung zu zahlen sei, anstatt andere laufende Gerichtsverfahren zu bearbeiten. Dies nimmt den Gerichten zusätzliche Ressourcen.

Abschreckendes Beispiel einer Entschädigungsklage: Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 18. Mai 2022 – L 6 SF 36/21 EK KR: Klagebegehren: 1.500,00 € Entschädigung, Klageergebnis (in 54 Randnummern begründet): 0,00 € Entschädigung, sondern lediglich die gerichtliche "Feststellung der unangemessenen Dauer". Ein Phyrrussieg.

Insgesamt kann ich daher empfehlen, nach Abschluss eines überlangen Gerichtsverfahrens (und erhobener Verzögerungsrüge) eine Entschädigung bei der jeweils zuständigen Justizbehörde zu beantragen - was durchaus erfolgreich sein kann -, im Falle der Ablehnung einer Entschädigung durch die Justizbehörde von einer Klage auf Entschädigung vor dem Landesozialgericht aber eher Abstand nehmen.

Politisch betrachtet bleibt die Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer ein eherwirkungsloses Instrument des Gesetzgebers. Die Justizbehörden der Länder haben bei den betragsmäßig niedrigen und schwierig durchzusetzenden Entschädigungen wegen überlanger Verfahrensdauer aus fiskalischer Sicht kaum Anlass, weitere Richter einzustellen. Denn was kostet eine Richterstelle im Vergleich zu wenigen tausend Euro Entschädigungszahlung pro Jahr ("Peanuts")? Da verzichtet man lieber auf die Schaffung weiterer Richterstellen und zahlt überschaubare Entschädigungen an die wenigen Betroffenen, die auf die Idee kommen, eine Verzögerungsrüge zu erheben und einen Entschädigungsantrag bei der Justizbehörde zu stellen.

Nachfolgende der (derzeitige) Wortlaut des § 198 GVG.

§ 198 Gerichtsverfassungsgesetz [derzeitige Fassung] (1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. (2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. [...]


Kommentare

N.
21.10.2020, 12:00 Uhr

Eine Frechheit, was die sich erlauben. Ich weiß ja, dass im Groben die Politik zuständig ist, aber wer ist der Leidtragende, der Patient! Statt jetzt mal die Gerichte zu entlasten und einem höheren GdB stattzugeben, wird lieber eisern daran festgehalten! Ja nicht dem Patienten etwas zugestehen, dann lieber die Klage aussitzen und warten, ob der Richter die Klage auf erhöhten GdB abweist. Wenn das Landesamt für soziale Dienste [Schleswig-Holstein, Anmk.] wirklich mal sozial wäre, hätten wir das Dilemma nicht!!!

M.
06.06.2022, 08:54 Uhr

In sieben Wochen wollte ich nach 10 Jahren einmal wieder Geburtstag feiern. Es ist mein 66ster. Leider wurde mein Verfahren beim LSG in der zweiten Instanz immer noch nicht auf die Zielgerade gebracht. In der ersten Instanz (4 Jahre) wurde ich zum Abschluß im Namen des Volkes verhönnt mit: "einfaches Verfahren". Es hat inzwischen 900 Blatt Papier in mehreren Ordnern (?). Das es besser geht zeigte das Sozial Gericht Salzburg. Obwohl die im Baucontainer arbeiten mussten war die Klage noch 1,5 Jahren mit zwie Gutachten und einem Blatt Papier von meiner Seite erledigt. Da ich nach Österreich ausgewandert war und nur wenige Jahre dort gearbeitet hatte, war ich nach Auslaufen von AL Geld und Notstandshilfe 3 Jahre arm dran. Ein weiterer Skandal die DRV hat nun zu 2. mal keine Rentenzahlung geleistet. Die erste Etappe "halbe Rente" Berufsunfähigkeit war 12/ 17 Auszahlung fast ein Jahr später. Ich sollte eigentlich die Altersrente erhalten? In Österreich ging das automatisch mit 65. Der ganze Prozeß in D ist gesetzes widrig, da ich einen Arbeitsplatz über die Grenze gar nicht erreichen könnte, wenn mich ein deutsches Gericht für teil arbeitsfähig ansehen würde.


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Veröffentlicht am

05.06.2019

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

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Der Artikel spiegelt die Rechtslage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder. Die Rechtslage kann sich jederzeit ändern.

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