Das Bundessozialgericht hat 2009 grundlegend entschieden, wann ein einfaches behördliches Schreiben nicht am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugegangen gilt (sog. Zugangsfiktion). Auch bei Einschreiben gilt die Zugangsfiktion nicht immer.

Bundessozialgericht

In der Entscheidung aus 2009 ging es um die Frage der rechtzeitigen Klageerhebung gegen einen per einfacher Post versendeten Widerspruchsbescheid des Jobcenters. Der Kläger hatte gegen einen unstreitig erhaltenen Widerspruchsbescheid fristgerecht Klage erhoben. Im Zuge des Rechtsstreits behauptete das Jobcenter, es sei in dieser Sache zuvor noch ein anderer, ebenfalls relevanter Widerspruchsbescheid ergangen, gegen den der Kläger nicht fristgerecht Klage erhoben hätte. Und ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt werde, gelte nach § 37 Absatz 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch 10 am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Der Kläger bestritt jedoch, einen solchen Widerspruchsbescheid erhalten zu haben. Das Bundessozialgericht stellte daraufhin klar, dass die Annahme, der Bescheid habe den Empfänger am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post erhalten, nicht gilt, wenn die Verwaltungsakten keinen sog. "Abgangsvermerk" enthielten, also eine Notiz, an welchem Tag das Schriftstück zur Post aufgegeben wurde.

In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahr 2007 stellte das Bundessozialgericht klar, dass selbst in Fällen, in denen ein Abgangsvermerk vorliegt, von dem angeblichen Empfänger eines mit einfacher Post übersandten behördlichen Schreibens grundsätzlich nicht mehr verlangt werden kann, als das einfache Bestreiten des Zugangs ("Habe ich nicht erhalten"). Es sei in diesen Fällen kein darüber hinaus gehendes "substantiiertes Vorbringen" zum Nichtzugang erforderlich. Dies wäre eine Überspannung der an den Adressaten zu stellenden Anforderungen an das Bestreiten. Denn "Zweifel" am Zugang i.S.d. § 37 Absatz 2 Satz 3 Sozialgesetzbuch 10 bestünden bereits dann, wenn der Adressat den Zugang - schlicht - bestreite. Anders, so das Bundessozialgericht in der Entscheidung aus 2007, sei die Sachlage beim behaupteten verspäteten Zugang. Dann könne und müsse der Empfänger vortragen, wann genau und unter welchen Umständen er die Erklärung erhalten habe.

Es kann also festgehalten werden:

Ohne Abgangsvermerk in der Verwaltungsakte gilt die 3-Tages-Fiktion nicht. Ist in der Verwaltungsakte ein Abgangsvermerk vorhanden, gilt zwar die 3-Tages-Fiktion, es genügt jedoch nach wie vor ein einfaches (auch unsubstantiiertes) Bestreiten des Zugangs. Denn der Nachweis der Absendung ersetzt im Bestreitensfall nicht den Beweis des Zugangs. Behauptet der Empfänger, das Schreiben später als 3 Tage nach Aufgabe zur Post erhalten, muss er substantiiert vortragen, wann genau und unter welchen Umständen er das Schreiben erhalten hat.

Was per Einschreiben versendete behördliche Schreiben angeht, so hat das Bundessozialgericht bereits 2000 entschieden, dass die Vermutung des § 4 Absatz 1 Verwaltungszustellungsgesetz, wonach bei Zustellung mit eingeschriebenem Brief dieser mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt gilt, nicht eingreift, wenn der Adressat einen späteren Zugang konkret behauptet und das Gericht es unterläßt, den tatsächlichen Übergabezeitpunkt innerhalb der Aufbewahrungsfrist für Zustellungsnachweise durch einen Nachforschungsauftrag bei der Post zu klären.

Das Bundessozialgericht führte aus: Die Zustellung durch eingeschriebenen Brief ermöglicht es der Behörde oder dem Gericht, den Zugang eines Schriftstücks in Zweifelsfällen mit Hilfe der bei der Post aufbewahrten Empfangsbescheinigung leicht und zuverlässig festzustellen. Im Gegensatz dazu hat der Adressat in der Regel kaum eine Möglichkeit, Beweise oder auch nur konkrete Anhaltspunkte dafür zu liefern, daß er das Schriftstück verspätet oder gar nicht erhalten hat. Um die Ermittlungspflicht des Gerichts auszulösen, muß es deshalb ausreichen, wenn er den Zugang ausdrücklich bestreitet oder einen späteren Zugang konkret behauptet.

Es kann also weiter festgehalten werden:

Auch bei einem von der Behörde nachweislich zur Post aufgegebenen Einschreiben, für das keine mit Datum versehene Empfangsbescheinigung existiert, genügt ein einfaches Bestreiten des Zugangs oder die substantiierte Behauptung eines späteren Zugangs. Der Absender (oder das Gericht) muss dann einen Nachforschungsauftrag bei der Post stellen. Wird kein Nachforschungsauftrag gestellt oder bleibt dieser ganz oder hinsichtlich des Zugangstages ohne Ergebnis, geht die Nichterweislichkeit des genauen Zugangsdatums zu Lasten des Absenders.

339 2677 23500


Kommentare

Mike
08.07.2022, 20:16 Uhr

Interessantes Paper zum Thema Zugangsfiktion & ab wann eine E-Mail als zugestellt gilt. Dort finden sich auch die technischen Beweismöglichkeiten für Absender: Beweisführung der Zustellung im E-Mail-Verkehr

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
14.07.2022, 13:34 Uhr

Herzlichen Dank für Ihren Beitrag und den Link zu der sehr interessanten Master-Arbeit. Nun heißt es dort auf Seite 26:

Elektronische Protokolle und Ausdrucke sind grundsätzlich dazu geeignet, als Anscheinsbeweis durch den Richter berücksichtigt zu werden. Dies wäre der Ausdruck einer erhaltenen SDN oder MDN, bzw. die Vorlage eines Mail- oder Webserverprotokolls mit passendem Zeitstempel.

Leider nur lässt der Autor offen, wie und wo "ein Otto-Normalverbraucher" ganz praktisch die Mail- oder Webserverprotokolle abrufen kann, um diese einem Gericht vorzulegen. Vielleicht können Sie das noch ergänzen. MfG RA Köper

Stefan Bauer
14.07.2022, 13:59 Uhr

Die Mail- und Webserverprotokolle lassen sich i.d.R. nur durch Unterstützung des IT-Dienstleisters auslesen. Dieses Protokoll erzeugt das Ausgangsmailsystem (eigener Mailserver bzw. Mailserver des eigenen E-Mail-Anbieters) bzw. der Webserver, welcher die Zugriffe aufzeichnet.

Mail- und Webserver sind bei kleinen Unternehmen bzw. Privatpersonen meist nicht unter eigener Kontrolle. Hier können diese nur nachträglich beim Anbieter angefordert werden.

Zu beachten ist, dass Protokolle - auch aus Datenschutzgründen - regelmäßig rotieren und deshalb nur zeitlich begrenzt vorgehalten werden.

Robert
05.09.2022, 15:22 Uhr

Als ich im Jahr 2018 arbeitslos gemeldet war, habe ich mindestens zweimal Bescheide vom Jobcenter bekommen, bei denen das Datum des Poststempels um mehrere Tage nach dem Bescheid lag, dementsprechend war auch der Zugang des Bescheids verspätet. Ein Schelm, wer da eine Masche zum Nachteil der "Kunden" vermutet.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
05.09.2022, 16:15 Uhr

Vielen Dank für Ihren Beitrag - das habe ich bei Mandantendokumenten vom Jobcenter auch schon sehr oft festgestellt, teilweise Poststempel, die über eine Woche älter sind, als das Datum des Bescheides. Dies führt dazu, dass die 1-monatige Widerspruchsfrist scheinbar verkürzt wird. Man ist daher beim Jobcenter gut beraten, Originalumschläge aufzubewahren (sofern daraus noch ein Datum zu ersehen ist) und den Eingang zu notieren.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
06.06.2023, 10:32 Uhr

Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 7. Dezember 2022 – L 6 AS 353/21: Ein Datumsstempel auf dem Widerspruchsbescheid, der nur den Zeitpunkt der Abgabe an die innerbehördliche Poststelle dokumentiert, stellt keinen ausreichenden Nachweis für das Datum der Aufgabe zur Post iSv § 37 Abs 2 S 1 SGB 10 dar. Bei fehlendem Absendevermerk der Poststelle hat das Gericht den tatsächlichen Zeitpunkt der Aufgabe zur Post nicht zu ermitteln. In diesem Fall bestehen Zweifel iSv § 37 Abs 2 S 3 Halbs 2 SGB 10 mit der Folge, dass die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen hat.


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Veröffentlicht am

12.08.2016

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

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© Rechtsanwalt Köper (Gilt nicht für gekennzeichnete Pressemitteilungen, Medieninformationen und Gerichtsentscheidungen)

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