Das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern hat bereits 2013 eine wichtige Entscheidung zum Anspruch auf plastische Operation nach starkem Gewichtsverlust im Anschluss an eine operative Magenverkleinerung als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung getroffen.

Operation

Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. Juli 2013 – L 6 KR 83/12:

Tatbestand Streitig ist, ob die Beklagte der Klägerin eine Dermolipektomie an den Armen und den Oberschenkeln beidseits sowie Abdominoplastik nach starkem Gewichtsverlust im Anschluss an eine operative Magenverkleinerung als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren hatte. Die 1956 geborene Klägerin ist Verkäuferin in einem Möbelfachgeschäft und bei der Beklagten versichert. Sie litt unter einer morbiden Adipositas mit einem Gewicht von 150 kg bei einer Größe von 168 cm, weswegen im Mai 2010 zu Lasten der Beklagten eine operative Magenverkleinerung erfolgte. Im Anschluss verlor die Klägerin massiv an Gewicht, d. h. im Oktober 2011 betrug das aktuelle Körpergewicht 94 kg. Am 20. Juni 2011 beantragte die Klägerin unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung des Universitätsklinikums C. die Kostenübernahme für eine Dermolipektomie (Hautstraffung) an den Armen und Oberschenkeln, jeweils beidseits, sowie einer Abdominoplastik (Bauchdeckenstraffung). Die Ärzte des Universitätsklinikums C. führten aus, es bestünden Haut-Weichteilüberschüsse an den Armen und Beinen beidseits, Abdomen und Mammae beidseits. Aufgrund des vorliegenden Befundes bestünde eine medizinische Indikation zur Durchführung der geplanten Eingriffe, die sequentiell im Rahmen mehrerer stationärer Aufenthalte erfolgen sollten. Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK), Dr. B., verneinte in einem Gutachten vom 01. September 2011 (nach Aktenlage, Fotodokumentation lag vor) eine Indikation für die beantragten Eingriffe. Es bestünden nach ausgeprägter Gewichtsabnahme nach Magenverkleinerung Haut/Weichteilüberschüsse im Bereich beider Oberarme, Oberschenkel sowie im Bereich der Bauchdecken. Funktionsbehinderungen seien weder beschrieben, noch aus den Unterlagen ersichtlich. Auch seien keine therapieresistenten Hautveränderungen beschrieben oder ersichtlich. Ein dermatologischer Befundbericht sei trotz expliziter Nachfrage nicht vorgelegt worden. Die vorliegenden Veränderungen nach Gewichtsreduktion stellten keine Entstellung im Sinne der Gesetzgebung dar, da sie durch Wahl geeigneter Kleidung zu kaschieren seien. Mit Bescheid vom 05. September 2011 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme mit der Begründung ab, die medizinischen Voraussetzungen hierfür lägen nicht vor. Hierzu bezog sie sich auf das eingeholte Gutachten des MDK. [...] Die zulässige Berufung der Klägerin hat Erfolg. Der angefochtene Gerichtsbescheid und die Bescheide des Beklagten waren aufzuheben, da die Klägerin Anspruch auf die begehrte operative Hautstraffung an Armen, Oberschenkeln und Bauch gegenüber der beklagten Krankenkasse hat. Nach § 27 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst unter anderem ärztliche Behandlung, einschließlich Krankenhausbehandlung (vgl. Satz 2 Nr. 1, 5). Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes und des Bundessozialgerichts (BSG) ist Krankheit im Sinne der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, der entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat (RVA GE Nr. 2140 AN 1916, 341; BSGE 13, 134; 16,177; 48, 258; 59, 119 st. Rspr.). Für die Feststellung der Regelwidrigkeit ist vom Leitbild des gesunden Menschen auszugehen, der zur Ausübung normaler körperlicher und psychischer Funktionen in der Lage ist (BSGE 35, 10 = SozR Nr. 52 zu § 182 RVO; BSGE 39, 167 = SozR 2200 § 182 Nr. 9; BSGE 93, 252 = SozR 4 – 2500 § 27 Nr. 3 Rz. 4 m. w. N.). Dabei stellt nicht jede körperliche Unregelmäßigkeit oder Abweichung von der Norm einen regelwidrigen Zustand mit Krankheitswert dar, sondern in erster Linie genügen nur solche Regelabweichungen, die ein erhebliches funktionelles Defizit zur Folge haben (BSGE 82, 158 = SozR 3 – 2500 § 39 Nr. 5 Seite 29; BSG SozR 4 – 2500 § 27 Nr. 2 Rdnr. 7). Eine Krankheit im vorgenannten engen Sinne liegt mangels erheblichen Funktionsdefizites nicht vor, wie das SG insoweit zutreffend dargelegt hat. Die bei der Klägerin hängenden Hautlappen an Armen, Beinen und Bauch stellen zwar eine körperliche Unregelmäßigkeit dar, sie beeinträchtigen jedoch nicht die Körperfunktionen der Extremitäten bzw. des Bauches. Eine erhebliche Funktionsbeeinträchtigung ist weder den ärztlichen Unterlagen noch den Schilderungen der Klägerin zu entnehmen. Ein Krankheitswert in diesem engen Sinne kann dem Herumschwabbeln der Hautlappen nicht beigemessen werden. Soweit Dr. D. von einer Beeinträchtigung der Beweglichkeit der Beine und Arme spricht, ist diese jedenfalls nicht als erheblich anzusehen. Insofern erachtet der Senat – auch unter Berücksichtigung der Beweglichkeit der Klägerin im Termin - die Einschätzung des MDK für überzeugend, wonach keine deutliche und damit erhebliche Beeinträchtigung der Beweglichkeit und Funktion der Extremitäten festzustellen ist. Krankheitswert könnte Hauterscheinungen zukommen, die auf den überschüssigen Hautlappen beruhen. Bei der Klägerin bestehen jedoch - wie auch letztlich unstreitig gewesen ist - keine dermatologischen Erkrankungen. Insbesondere ergibt sich hierfür auch kein Anhalt aus der ärztlichen Bescheinigung des Hautarztes Dr. D.. Ein Krankheitswert wäre zudem erst dann zu bejahen, wenn Hautreizungserscheinungen in erheblichem Ausmaße vorlägen, die dauerhaft therapieresistent wären. [...] Der Senat vertritt die Auffassung, dass hier aufgrund der vorangegangenen von der Beklagten gewährten Magenoperation modifizierte Maßstäbe für die Prüfung und Bewertung einer Entstellung zu gelten haben. Die Hautfalten sind unstreitig Folgen des als Leistung der GKV gewährten operativen Eingriffes zur Behandlung einer morbiden Adipositas. Versicherte haben Anspruch auf einen chirurgischen Eingriff in ihr eigentlich gesundes Körperorgan bei Vorliegen einer massiven Adipositas, wenn strenge Voraussetzungen erfüllt sind, die ausnahmsweise diesen Eingriff als ultima ratio zwingend notwendig machen. Es muss ein BMI ≥ 40 oder ≥ 35 mit erheblichen Begleiterkrankungen vorliegen, konservative Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sein, ein tolerables Operationsrisiko bestehen, eine ausreichende Motivation und keine manifeste psychiatrische Erkrankung vorliegen, die Möglichkeit einer lebenslang medizinischen Nachbetreuung bestehen und schließlich sind die Folgekosten für die Krankenversicherung gegeneinander abzuwägen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 2003, B 1 KR 1/02 R; Urteil vom 16. Dezember 2008, B 1 KR 2/08 R [zitiert jeweils nach Juris]; Leitlinien, Chirurgie der Adipositas, Stand 01.06.2010, gültig bis01.06.2015, AWMF online). Hier sind diese strengen Voraussetzungen von der Beklagten bejaht worden, weswegen die Adipositas der Klägerin erfolgreich chirurgisch behandelt worden ist. Folge dieses operativen Eingriffs war ein schneller deutlicher Gewichtsverlust von immerhin rund 55 kg, welcher bei der Klägerin diese anormalen Hautlappen verursacht hat. Die Ärzte des Universitätsklinikums C. haben die Indikation für die operative Entfernung dieser Hautlappen bestätigt. Der Senat hat bereits aus anderen Verfahren die Kenntnis gewonnen, dass nach schnellem Gewichtsverlust infolge operativer Magenverkleinerung oder Magenbandimplantation entstehende Hautfalten nicht durch Sport abtrainierbar sind. Sie sind unvermeidbare Folge des schnellen massiven Gewichtsverlustes, der sich bei chirurgischer Behandlung der Adipositas in der Regel einstellt. Schließlich hat die Beklagte selbst nicht vorgetragen, dass hier eine andere Möglichkeit als die operative Entfernung zur Beseitigung der Hautlappen bestünde. Mithin stellt sich nur die Frage, ob die Entfernung der Hautlappen als kosmetische Maßnahme in den Bereich der Eigenverantwortung des Versicherten fällt oder als typische zwingende Folge der operativen Behandlung der Adipositas auch für diese Behandlung die Krankenkasse einzustehen hat. Nach Auffassung des Senats kann in diesen Fällen eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkasse bestehen, wenn die Hautfalten gravierend und für die Versicherten nicht zumutbar sind. Ausnahmsweise geht der Anspruch auf Krankenbehandlung auch soweit, dass notwendige Folgeeingriffe wegen unzumutbarer Hautfalten nach von der GKV erbrachter Magenoperation wegen morbider Adipositas mitumfasst sind. Nach Einschätzung des Senates liegen hier gravierende - und nicht lediglich geringfügige - Hautfalten vor, die noch hinnehmbar wären. Insoweit sieht der Senat auch entscheidende Unterschiede zu einem vom Hessischen LSG entschiedenen Verfahren (Urteil vom 15. April 2013, L 1 KR 119/11), in welchem wohl weniger ausgeprägte Hautfalten bzw. eine noch hinzunehmende überlappende Fettschürze bestanden, da jene Klägerin nach einer Magenbandoperation lediglich 20 kg Körpergewicht verlor. Hier bestehen jedoch nach rund 55kg Gewichtsverlust derartig erhebliche Auffälligkeiten, die anderen Menschen in alltäglichen Situationen wie kurz bekleidet im Sommer, in Sportbekleidung, erst Recht in Umkleidekabinen in Fitnesscentern oder beim Baden auffallen. Sie sind geeignet, musternde bis abschätzige Blicke hervorzurufen. Die überschüssige Haut geht über das Ausmaß, das auch bei regulärem Abnehmen entstehen könnte, deutlich hinaus. Sie bedeutet nicht lediglich eine noch zu tolerierende Minderung der Attraktivität wie zB schlaffe Haut infolge des normalen Alterungsprozesses oder tolerable Operationsnarben. Letztlich droht sogar, dass der Erfolg des operativen Eingriffs auf Spiel gesetzt würde, wenn Versicherte mit diesen Auffälligkeiten sich quasi lebenslang im völlig bekleideten Zustand im Alltag bewegen müssten und Situationen wie Sport und Baden gänzlich vermieden, weil sie sich diesen Situationen der Fixierung des Interesses anderer nicht aussetzen wollen. Im Rahmen des sog. multimodalen Konzepts bei chirurgischer Behandlung der morbiden Adipositas gilt, dass nicht allein der chirurgische Eingriff zum beabsichtigten Erfolg führt, sondern der Versicherte lebenslang Disziplin zu halten hat. Neben einer stabilen Psyche und fortdauernder Ernährungsdisziplin wird gerade die aktive Bewegung und Sport abverlangt. Es wäre völlig kontraproduktiv, die betroffenen Versicherten nach erfolgreicher operativer Behandlung nicht weiter in ihrem Bemühen um Gewichtserhaltung zu fördern. Betroffene könnten gerade aus Scham auf sportliche Aktivitäten verzichten und sich aus der Gemeinschaft zurückziehen, wobei hier der Senat noch den Eindruck gewonnen hat, dass die Klägerin mit der für sie belastenden Situation noch relativ positiv und stabil umgeht und jedenfalls derzeit noch Sport treibt (Nordic Walking) und nicht zu vereinsamen droht. Gleichwohl geht dies nicht zu ihren Lasten, sondern ist - wie vorstehend dargelegt – entscheidend, dass die objektiv als nicht mehr hinnehmbar einzuschätzenden Auffälligkeiten kausal durch die von der Beklagten zur Behandlung der Adipositas gewährte Magenverkleinerung hervorgerufen sind. Die Folgekosten für etwaige plastische Operationen wären insoweit neben allen anderen o.g. Kriterien wie Risiken etc. bereits in die Abwägung für oder gegen die chirurgische Behandlung der Adipositas mit einzubeziehen gewesen.


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Veröffentlicht am

26.03.2019

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

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