Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat in einem aktuellen Verfahren entschieden, dass das Merkzeichen "aG" für die Feststellung eine außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht lediglich in den Fällen der in der Anlage 2 zur Versorgungsmedizin-Verordnung genannten Regelbeispiele in Betracht kommt, sondern ebenso eine rechtliche Gleichstellung aufgrund erheblicher anderer Beeinträchtigungen möglich ist. Maßgeblich ist jeweils eine Gesamtbetrachtung im Einzelfall.

Die Klägerin, zu deren Gunsten ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festgestellt ist, beantragte unter anderem die Feststellung eines höheren GdB sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG". Der Beklagte holte ärztliche Befundberichte sowie eine gutachtliche Stellungnahme eines Facharztes ein und stellte daraufhin einen GdB von 90 und überdies bei Bestätigung des Merkzeichens "G" die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" (Notwendigkeit einer Begleitperson) fest.

Dem GdB lagen diverse Einzel-GdB zugrunde da die Klägerin in vielfältiger Weise körperlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt ist. Diese rechtfertigten in der Gesamtheit eine Beurteilung eines Gesamt-GdB von 90, so das Versorgungsamt. Den auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" gerichteten Antrag der Klägerin lehnte der es jedoch ab. Hiergegen richteten sich Widerspruch und letztlich Klage der Klägerin vor dem Sozialgericht Berlin. Mit dieser hatte sie Erfolg, was nun auch die Berufungsinstanz bestätigte.

Nach der Anlage 2 zur Versorgungsmedizin-Verordnung, auf die hier ergänzend zurückgegriffen werden müsse, ist die Feststellung des Merkzeichens "aG" vor allem vorgesehen für Menschen, die an einer schwerwiegenden Behinderung in Gestalt von exemplarisch aufgezählten Beeinträchtigungen leiden. Bei der Klägerin lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" aber gleichwohl vor, obwohl sie gerade nicht zum Kreis der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Doppelunterschenkelamputierten, Hüftexartikulierten und einseitig Oberschenkelamputierten, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, gehöre. Sie sei aber ein schwerbehinderter Mensch, der dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen ist. Denn die Gehfähigkeit der Klägerin sei in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt und sie könne sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die eben aufgeführten schwerbehinderten Menschen fortbewegen.

Für die Beurteilung einer Gleichstellung sei vordergründig bei dem Restgehvermögen anzusetzen. Ein Restgehvermögen, das einen Anspruch möglicherweise ausschließen würde, lasse sich jedoch weder in angemessener Weise abstrakt quantifizieren noch qualifizieren. Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugten grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellten, wie die Vorschriften der Versorgungsmedizin-Versorgung im Übrigen auch, nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen könne, sondern vielmehr darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich sei. Es komme entscheidend darauf an, ob dies lediglich mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung möglich erscheine. Wer diese Voraussetzungen praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfülle, qualifiziere sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er längere Wegstrecken auf diese beschwerliche Weise zurücklege. Es komme insoweit nicht, wie vom beklagten Versorgungsamt eingewandt, darauf an, ob es die Klägern tatsächlich schaffe, die Wegstrecke zu absolvieren.

Die Kosten des Rechtsstreits hat das Versorgungsamt zu zahlen. Das Urteil ist rechtskräftig.

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Veröffentlicht am

23.10.2013

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

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Der Artikel spiegelt die Rechtslage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder. Die Rechtslage kann sich jederzeit ändern.

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