Für Personen, die in ihrer Mobilität erheblich eingeschränkt sind, stellt sich irgendwann die Frage, ob diese Beeinträchtigung auch Niederschlag in einem Schwerbehindertenausweis findet. So hatte auch das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in einem Urteil darüber zu befinden, unter welchen Voraussetzungen das Merkzeichen "aG" (außgergewöhnlich gehbehindert) zuerkannt werden kann. Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen nach sich.

Der 1943 geborene Kläger ist aufgrund einer im Jahre 1998 erlittenen osteoporotischen Kompressionsfraktur des 1. Lendenwirbelsäulenkörpers schwerbehindert (GdB von 80). Er streitet sich mit der zuständigen Behörde über die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnlich gehbehindert).

Im Zuge dieses Verfahrens hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dargelegt, unter welchen Voraussetzungen die Zuerkannung dieses Merkzeichens möglich ist.

Für die Einschätzung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung kommt es dabei nicht darauf an, über welche Wegstrecken hinweg sich ein schwerbehinderter Mensch außerhalb seines Kraftfahrzeugs noch bewegen kann. Vielmehr ist entscheidend, unter welchen Bedingungen ihm dies noch möglich ist. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung ist insoweit in den Fällen anzunehmen, in denen eine Bewegung nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung möglich ist.

Im hier zugrunde liegenden Fall kam eine Zuerkannung nicht in Betracht, weil der Betroffene noch ohne fremde Hilfe seine eigene Wohnung verlassen und wiederaufsuchen konnte, ohne dass diese die entsprechende Schwelle der Überanstrengung überschreitet. Dies schließt eine Zuerkannung nach Ansicht des Gerichts aus. Anderes würde nur in den Fällen gelten, in denen der Betroffene zwar ohne fremde Hilfe von Dritten, aber nur mit einem Rollstuhl zur Verlassen und Aufsuchen der Wohnung fähig wäre. In solchen Fällen ist eine Zuerkennung möglich und auch die Regel.

Beachten Sie: Eine Feststellung kann stets nur im Einzelfall erfolgen. Sollten Sie einen ablehnenden Bescheid auf Ihren Antrag hin erhalten, kontaktieren Sie mich gerne.

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.11.2010.


Kommentare

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
19.08.2019, 15:25 Uhr

Sozialgericht Bremen, Urteil vom 29. November 2018 – S 20 SB 297/16 –, Rn. 41 - 42: Der Kläger hat schriftlich vorgetragen und auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung noch einmal erläutert, dass er für längere Wegstrecken (etwa ab 200 Metern) einen Rollstuhl benötige. Dieser lediglich etwa 9 Kilogramm wiegende Rollstuhl sei ihm bereits vor Jahren verordnet worden. Weiterhin hat er anschaulich beschrieben, dass er nach einer kurzen Wegstrecke von längstens 50 Metern mit dem Rollator eine Pause benötige, weil er durch die von ihm vorzunehmende Gegenarbeit, bzw. Ausgleichsbewegungen gegen die Parese sodann unter starken Schmerzen und Brennen in den Füßen leiden würde. Allerdings könne eine vollständige Erholung von diesen Schmerzen bis zu einer halben Stunde in Anspruch nehmen und es bestehe die Besonderheit, dass das Absetzen auf dem Rollator bei ihm aufgrund der hierfür notwendigen Rückwärtsbewegung erschwert oder je nach Verfassung gar nicht möglich sei. Arzttermine würde er aus diesem Grunde regelmäßig mittels Taxi wahrnehmen. Lebensmittel lasse er sich mittlerweile durch einen Lieferdienst bringen. Der Kläger könne sein Kraftfahrzeug nicht ohne Hilfsmittel verlassen und wieder in dieses zurückgelangen, das heißt, er sei darauf angewiesen sich an einer extra angebrachten Dachreling festhaltend langsam um das Auto herumzubewegen, um den Rollator oder Rollstuhl nach Betätigen der automatischen Kofferraumöffnung unter Zuhilfenahme eines hierfür installierten Ladekrans auszuladen. Insofern liegt nach Überzeugung der erkennenden Kammer eine außergewöhnliche Gehbehinderung vor. Zwar ist der Kläger weder absolut gehunfähig noch vom Verlassen seines Kraftfahrzeugs an auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen, so dass die Voraussetzungen des Regelbeispiels des Abs. 3 S. 3 nicht vorliegen. Allerdings ist die Gehbehinderung des Klägers so ausgeprägt, dass er nicht in der Lage ist, außerhalb seines Fahrzeugs auch nur einen Schritt zu tun, ohne sich entweder am Fahrzeug selbst oder am Rollator oder Rollstuhl festzuhalten, wobei jedoch insbesondere die Schwierigkeit der Durchführung von Erholungspausen sowie deren erforderliche Dauer zu der Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung führen. Wäre der Kläger auf die Nutzung allgemeiner Parkflächen angewiesen, so müsste er die beispielsweise bei größeren Einkaufszentren oder größeren Veranstaltungen anfallenden Gehstrecken vom Kraftfahrzeug bis zum Eingang (häufig 100 Meter und mehr) mit mehrfachen Pausen bewältigen, wobei Sitzgelegenheiten selten vorhanden sind und ihm das Setzen auf den Rollator aufgrund der bestehenden Schwierigkeiten bei Rückwärtsbewegungen deutlich erschwert oder je nach Verfassung gar unmöglich ist.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
14.02.2020, 10:50 Uhr

Das Landessozialgericht Hamburg hat in einer Entscheidung zum Merkzeichen aG bei hirnorganischen Erkrankungen ausgeführt:

Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 14. Mai 2019 – L 3 SB 22/17: Wie bereits dargelegt müssen erhebliche mobilitätsbezogene Beeinträchtigungen vorhanden sein. Wie bei Personen, die unmittelbar aufgrund orthopädischer Leiden in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, muss es sich um besonders gravierende und schwerwiegende Beeinträchtigungen handeln. Das bedeutet, dass die sich aus einer geistigen Behinderung bzw. Hirnleistungsschwäche ergebenden Einschränkungen für die Mobilität im Hinblick auf die Orientierung und die Fähigkeit, zielgerichtete Wege zu gehen, für sich genommen ebenso wenig ausreichen, wie eine verminderte Gehfähigkeit aufgrund von orthopädischen Beschwerden. Es muss eine erhebliche Beeinträchtigung vorliegen, die von der Intensität einer Rollstuhlnutzung auch auf kurzen Wegstrecken entspricht. Das ist nach höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung erst dann der Fall, wenn aufgrund der erheblichen Selbstgefährdung oder Gefährdung Dritter eine verantwortungsbewusste Begleitperson den Behinderten im innerstädtischen Fußgängerverkehr nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl befördern würde (BSG v. 13.12.1994 - 9 RVs 3/94; LSG Nordrhein-Westfalen v. 25.08.2005 - L 7 SB 176/04; LSG Berlin-Brandenburg v. 10. März 2016 - L 11 SB 257/13 jeweils in juris).


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Veröffentlicht am

02.05.2012

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

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Der Artikel spiegelt die Rechtslage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder. Die Rechtslage kann sich jederzeit ändern.

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