Das Kammergericht Berlin hat entschieden, dass der zum 01.08.2013 mit dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden ("BeitrSchG") eingeführte günstige Notlagentarif auch rückwirkend, d.h. für die Zeit davor gelten kann, wenn die Versicherung schon vorher "ruhend" gestellt wurde.

In dem entschiedenen Fall ging es um eine versicherte, die hohe Beitragsrückstände bei ihrem privaten Krankenversicherer hatte. Die Krankenversicherung wurde im November 2008 wegen der Zahlungsrückstände mit sofortiger Wirkung gekündigt und anschließend im sog. Basistarif fortgesetzt. Anschließend verklagte die Krankenversicherung ihre Versicherte auf Zahlung der Beitragsrückstände nebst Säumniszuschlägen.

Das Kammergericht Berlin sprach der Krankenversicherung in der Berufungsinstanz nur einen Teilbetrag der Krankenversicherungsbeiträge und Säumniszuschläge zu und stellte fest, dass die versicherte auch für die Zeit von November 2009 bis Dezember 2010 rückwirkend als im Notlagentarif versichert gelte. Die Krankenversicherung sei in dieser Zeit nämlich wegen Beitragsrückständen vom Versicherer nach § 193 Absatz 2 Versicherungsvertragsgesetz [Achtung: Dieser Paragraf lautete bis zum 01.08.2013 anders] "ruhend gestellt" worden.

Ein privat Krankenversicherter gelte nach Art. 7 Satz 2 des Einführungsgesetzes zum Versicherungsvertragsgesetz (Abkürzung: VVGEG) auch rückwirkend ab dem Zeitpunkt, zu dem die Leistungen aus dem Vertrag ruhend gestellt worden sind, als im Notlagentarif versichert, wenn die monatliche Prämie des Notlagentarifs niedriger ist als die in diesem Zeitpunkt geschuldete Prämie.

Die Krankenkasse habe hier nach Mahnung mit Schreiben vom 02.10.2009 das Ruhen ihrer Leistungen festgestellt. Der Notlagentarif sei hier auch deutlich günstiger gewesen, als der eingeklagte monatliche Beitrag. Die Versicherte sei damit in den Notlagentarif überführt worden. Es sei auch nicht erforderlich, dass die Krankenversicherung noch im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beitragsschuldengesetzes zum 01.08.2013 ruhend gestellt sei. Ein solches Erfordernis ergebe sich nicht aus Artikel 7 Satz VVGEG.

Damit widerspricht das Kammergericht Berlin der Auffassung des Landgerichts Dortmunds, dass in seinem Urteil vom 19.12.2013 die Auffassung vertritt, eine rückwirkende Geltung des Notlagentarifs für die Zeit vor Inkrafttreten des Beitragsschuldengesetzes käme nicht in Betracht.

Kommentar: Etliche tausend privat Krankenversicherte dürften noch mit Beitragsschulden aus der Zeit vor August 2013 konfrontiert sein. Das Urteil des Kammergerichts Berlin kann hier sehr hilfreich sein, die Beitragsforderungen zumindest deutlich zu reduzieren. Das Urteil des Landgerichts Dortmund überzeugt im Gegensatz zum Urteil des Kammergerichts Berlin schon deshalb nicht, weil Artikel 7 VVGEG im Urteil des LG Dortmund nicht einmal erwähnt wird. Die weitere Rechtsprechung in diesem Bereich bleibt dennoch abzuwarten - es ist nicht gesagt, dass andere Gerichte der Ansicht des Kammergerichts Berlin folgen. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs liegt noch nicht vor.

TIPP: Suchen Sie in Ihren Unterlagen unbedingt nach Mahnungen und Schreiben Ihrer privaten Krankenversicherung, mit der diese Ihre Versicherung wegen Beitragsschulden "ruhend" gestellt hat. Sie können damit unter Umständen erreichen, rückwirkend in den Notlagentarif zu gelangen, der mit monatlichen Beiträgen zwischen ca. 100 € und 200 € vergleichsweise günstig ist.

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Kommentare

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
29.07.2015, 12:32 Uhr

Von Betroffenen erfahre ich, dass die Krankenversicherer die Versicherungsverträge auch bei langfristiger Nichtzahlung des Beitrages nicht "ruhend" stellen, sondern die Beiträge weiter auflaufen lassen und den üblichen Mahnlauf fortsetzen. Nach einiger Zeit wird teilweise nicht in den (günstigen) Notlagentarif, sondern den (teuren) "Basistarif" umgestellt. Erfolgt weiterhin keine Zahlung, folgen gerichtliche Mahnbescheide und Zahlungsklagen. In solchen Fällen kann zur Verteidigung gegen die hohen Beitragsforderungen geltend gemacht werden, dass der Vertrag 1 Monat nach Zugang der 2. Mahnung nach § 193 Absatz 6 Satz 4 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) k r a f t G e s e t z e s ruht, wenn der Beitragsrückstand den Beitrag für 1 Monat übersteigt (was der Fall sein sollte). Ruht aber der Vertrag kraft Gesetzes 1 Monat nach Zugang der 2 Mahnung, gilt ab diesem Zeitpunkt nach § 193 Absatz 7 Satz 1 VV auch kraft Gesetzes der Notlagentarif. Folge ist dann, dass Beitragsforderungen, die für diese Zeit oberhalb des Notlagentarifs liegen, unbegründet sind. Weiter ist zu berücksichtigen, dass viele Versicherer den Notlagentarif bis heute noch nicht einmal festgelegt haben. Ein in der Höhe nicht festgelegter Beitrag kann jedoch mangels Bestimmtheit nicht fällig werden. Gegen entsprechende Zahlungsklagen der Versicherer sollte man sich daher wehren.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
01.09.2015, 11:45 Uhr

Der Notlagentarif ist gesetzlich in § 12h Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) geregelt. Danach muss die Versicherung in diesem Tarif die Kosten für ärztliche Leistungen erstatten, "die zur Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft erforderlich sind." Auch Kosten für die Behandlung chronischer Erkrankungen (z.B. Dialysebehandlungen) müssen übernommen werden. Bitten Sie Ihren behandelnden, bzw. ins Krankenhaus einweisenden Arzt um eine ärztliche Bescheinigung, dass es sich um die Behandlung einer akuten Erkrankung handelte oder ein akuter Schmerzzustand vorlag. Da der den privaten Krankenversichern vom Gesetzgeber aufgezwungene Notlagentarif allerdings wegen der niedrigen Beiträge bei den Versicherern äußerst unbeliebt ist, kann man sich ausmalen, dass die Versicherer hier sehr häufig eine Kostenerstattung ablehnen wird mit der Behauptung, eine akute Erkrankung oder ein Schmerzzustand oder eine chronische Erkrankung habe nicht vorgelegen. Leider liegen derzeit noch keine Gerichtsurteile vor, was unter diesen Begriffen medizinisch zu verstehen ist. Bei einer Ablehnung durch die Krankenversicherung trotz ärztlicher Bescheinigung sollten Sie sich rechtlich zur Wehr setzen.

M.
17.09.2015, 15:52 Uhr

Es ist nicht alles Gold, was glänzt: In meinem Fall hat die PKV einfach mal 8 Monate lang "vergessen", die rückständigen Beiträge zu mahnen, und nachdem ich sie dann telefonisch gefragt habe, ob sie die Beiträge nicht irgendwann haben wollten, hat sich die Versicherungsgesellschaft bei mir sehr höflich für dieses Versäumnis entschuldigt und schließlich den üblichen Mahnlauf eingeleitet. Während des Ablaufs der Mahnfrist, wurde das Beitragskonto natürlich noch zusätzlich mit den vollen Beiträgen belastet. Meine Frage nach der Möglichkeit einer nachträglichen Versetzung in den Notlagentarif wurde negativ beantwortet, weil ja durch den nicht erfolgten Mahnlauf auch kein Ruhen der Leistungen festgestellt worden sei und ich somit in der gesamten Zeit in den Genuß der normalen vertraglichen Versicherungsleistungen hätte kommen können. Fazit: Insgesamt € 5.500 Beitragsrückstand, und eine Gesamtforderung von über € 7.000 die ich jetzt in monatlichen Raten zu je € 650 an den beauftragten Anwalt zahle. Dieser Anwalt hat mir dann auch noch eine Ratenzahlungsvereinbarung zur Unterschrift vorgelegt, in der ich ausdrücklich auf die Einwendung jeglicher Art, hinsichtlich des Grundes und der Höhe der Schuld sowie auf die Erhebung der Vollstreckungsgegenklage, Nichtigkeitsklage oder Restitutionsklage verzichten soll. Weil mir das Ganze sittenwidrig erscheint, habe ich diese Vereinbarung nicht unterzeichnet, überweise aber seit 3 Monaten trotzdem brav die monatlichen Raten, und bislang hat sich noch keiner beschwert. Insgesamt kann man an diesem Beispiel gut sehen, wie bestehende Gesetze wunderschön unterlaufen werden können, und mich hat hier auf jeden Fall das Gefühl beschlichen, über den Tisch gezogen worden zu sein.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
05.09.2016, 14:02 Uhr

Anlässlich einer weiteren, heutigen Anfrage: Wenn Ihr Versicherer Sie trotz Beitragsschulden nicht in den Notlagentarif überführt hat, verstößt dieser gegen gesetzliche Vorgaben. Denn in § 193 Abs. 6 Satz 1 Versicherungsvertragsgesetz heißt es:

Ist der Versicherungsnehmer in einer der Pflicht nach Absatz 3 genügenden Versicherung mit einem Betrag in Höhe von Prämienanteilen für zwei Monate im Rückstand, hat ihn der Versicherer zu mahnen.

Der Versicherer ist also gesetzlich gezwungen, das Mahnverfahren einzuleiten, dass bei mangelnder Tilgung der Beitragsschulden (wie in § 193 Abs. 6 beschrieben) zwangsläufig zum Ruhen der Versicherung führen muss und damit im Notlagentarif mündet. Verstößt der Versicherer gegen seine gesetzliche Pflicht zum Mahnverfahren und zur Überführung in den Notlagentarif, macht er sich ggf. schadenersatzpflichtig in Höhe der Beitragsdifferenz.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
10.12.2019, 16:25 Uhr

OLG Köln, Beschluss vom 19. Februar 2019 – I-9 U 137/18: Sind die in § 193 Abs. 6 VVG festgelegten Prämienrückstände aufgelaufen, ist der VR zur Mahnung verpflichtet. Der Versicherer einer Krankheitskostenpflichtversicherung im Sinne des § 193 Abs. 3 VVG kann sich nicht darauf berufen, dass ihm eine Erfüllung dieser gesetzlichen Pflicht zur rechtzeitigen Mahnung von Beitragsrückständen infolge einer von ihm selbst vorgenommenen rückwirkenden Policierung unmöglich gewesen sei, die Umstellung in den Notlagentarif daher erst zu einem späteren Zeitpunkt eingreife.


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Veröffentlicht am

06.03.2015

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

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