Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz hat im Dezember 2014 entschieden, dass es einem Arbeitslosen auch dann zumutbar ist, zwei Bewerbungen pro Woche zu schreiben, wenn er für die Pflege seiner kranken Mutter zuständig ist.

Der Kläger war in der Vergangenheit unter anderem als Versandarbeiter, Lkw-Fahrer und Taxifahrer tätig. Zuletzt gründete er 2006 ein Unternehmen, dass Seniorenreisen anbot. Da es sich jedoch nicht rentierte, musste der Kläger diese Tätigkeit 2010 wieder aufgeben.

Seit 2008 pflegt der Kläger seine 1934 geborene Mutter, die in einer eigenen Wohnung im selben Haus wie er lebt. Sie leidet unter anderem an den Folgen eines Schlaganfalles und unter Diabetes. Die Pflegestufe II ist seit 2009 anerkannt. Der Kläger kümmert sich um die Körperpflege und das An- und Auskleiden der Mutter, richtet ihre Mahlzeiten und spritzt Insulin. Lediglich am Nachmittag von ca. 12.30 Uhr bis 18.00 Uhr und nachts benötigt die Mutter in der Regel keine Hilfe.

Für die Zeit von Dezember 2011 bis November 2012 gewährte ihm der Beklagte Arbeitslosengeld II. Dazu schloss der Kläger mit dem Beklagten eine Eingliederungsvereinbarung ab. Als Ziele der Vereinbarung wurde darin festgehalten: "Pflege der Mutter (Stufe II), Findung 400 EUR Nebentätigkeit oder Teilarbeit". Weiter wurde als Pflichten des Klägers genannt, dass dieser sich auf Vermittlungsvorschläge unverzüglich zu bewerben habe. Außerdem habe er während der Gültigkeitsdauer der Eingliederungsvereinbarung mindestens zwei Bewerbungsbemühungen jede Woche (davon mindestens eine auf ein konkretes Stellenangebot) um sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu unternehmen und Nachweise dazu vorzulegen.

Nachdem der Beklagte einen Verstoß gegen die Eingliederungsvereinbarung bemerkte, hörte er den Kläger zu dieser Sache an. Dieser gab an, er habe nicht mehr Stellen gefunden, auf die er sich habe bewerben können. Daraufhin wurde für die Zeit vom 01.05.2012 bis zum 31.07.2012 durch Bescheid eine Minderung um 30 % des maßgebenden Regelbedarfes verfügt, da der Kläger seinen Pflichten, mindestens zwei Bewerbungen wöchentlich zu tätigen, nicht nachgekommen sei.

Sowohl der Widerspruch des Klägers als auch die Klage vor dem Sozialgericht blieben erfolglos.

Im Dezember 2014 wies auch das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz die Berufung des Klägers zurück.

Das Gericht führte dazu aus, der Kläger habe gegen die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten, mindestens zwei Bewerbungsbemühungen jede Woche zu unternehmen und Nachweise darüber vorzulegen, verstoßen. Das Bundessozialgericht habe im Bereich der Arbeitslosenhilfe entschieden, dass es einem Arbeitslosen grundsätzlich zumutbar sei, zwei Bewerbungen pro Woche zu unternehmen. Dies gelte auch im vorliegenden Fall.

Die Tatsache, dass der Kläger seine Mutter pflege, führe zu keiner anderen Beurteilung. Da die Pflege der Mutter als Ziel der Eingliederungsvereinbarung festgehalten sei, komme es zwar nicht darauf an, ob die Pflege im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch 2 auf andere Weise sichergestellt werden könnte als durch den Kläger. Es ist aber nicht erkennbar, dass diese Pflege den Kläger so einschränken würde, dass es keine ausreichende Zahl von angebotenen Beschäftigungen gab, denen er nachgehen könnte.

Für die Zeit von November bis Januar fehle es an den entsprechenden Nachweisen von Bewerbungsbemühungen. Selbst wenn man aber vom Vortrag des Klägers ausginge, dass er im fraglichen Zeitraum insgesamt fünf Wochen erkrankt war, erkläre dies nicht, warum er in den insgesamt 24 (vollen) Wochen des Zeitraums der Geltungsdauer der Eingliederungsvereinbarung nicht mehr als 15 Bewerbungen vorgenommen habe. Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers von den 24 Wochen fünf Wochen einer Erkrankung und zusätzlich die Weihnachtswoche in Abzug bringen würde, insgesamt also sechs Wochen, verblieben 18 Wochen, in denen nach dem Inhalt der Eingliederungsvereinbarung 36 Bewerbungen hätten vorgenommen werden müssen. Dies läge weit über den behaupteten 15 Bewerbungen.

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Kommentare

C.
26.10.2016, 23:44 Uhr

Ich habe, das sei vorab gesagt, selber einige Ahnung vom juristischen Fach.

Meine Meinung dazu: Diese Rechtsauffassung ist nicht nur weltfremd: Wieviele Arbeitsstellen und Arbeitgeber gibt es, die in der Zeit zwischen 12h30 und 18 Uhr anfallen, bzw. sich darauf einlassen, daß der Arbeitnehmer für die übrige Zeit gebunden ist? Hat das "Jobcenter" oder das Gericht mal versucht, herauszufinden, ob es wirklich im Nahbereich des Klägers derartig viele Stellenangebote gibt, welche in dieser Zeitspanne ausgeübt werden? Diese Rechtsauffassung zeigt zudem, daß die Sozialgerichte besser **** genannt werden sollten, denn hier wird rein formalistisch oder sogar rechtspositivistisch entschieden. - Schon mal etwas von Zumutbarkeit gehört oder eine Verhältnismäßigkeitsprüfung versucht? Das ist Sozialrichtern, ich habe selber schon entsprechende Erfahrungen gemacht, offenbar etwas Fernliegendes.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
27.10.2016, 13:10 Uhr

Sehr geehrte(r) C.,

ich verstehe Ihren Ärger und man kann der Meinung sein, dass neben einer Pflege, auch wenn diese nur Teilzeit ausgeübt wird, eine Nebenbeschäftigung häufig de facto nicht möglich ist, wenn sich etwa der Zeitpunkt des Pflegebedarfs nicht vorhersagen lässt (weil Mutter z.B. nicht immer um Punkt 11.30 Uhr auf die Toilette muss oder nur zur Mittagszeit um Hilfe ruft). Die gesetzliche Rentenversicherung z.B. geht bei über 55-Jährigen i.d.R. ohne weitere Prüfung davon aus, dass der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist. Das beispielhafte Gerichtsurteil zeigt aber eindrücklich, dass es ein Risiko ist, die geforderten Bewerbungen nicht abzuliefern. Die bessere Taktik ist: Widerspruch gegen die Eingliederungsvereinbarung und ggf. ein anschließendes Klageverfahren über die Frage der sinnvollen Anzahl von Bewerbungen, währenddessen aber die gewünschten Bewerbungen ordnungsgemäß platzieren und dokumentieren, was daraus geworden ist. Sich einfach nicht zu bewerben, kann nach hinten losgehen. Die meisten Arbeitgeber heutzutage akzeptieren auch PDF-Bewerbungen. Hinweise in der Bewerbungen auf die Pflege von Angehörigen dürften de facto zur Ablehnung führen. Und übrigens: Schimpfen bringt rechtlich leider gar nichts...

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
27.10.2016, 13:23 Uhr

Nachtrag: Es findet sich auch eine Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen aus 2014, wobei es um einen Antragsteller ging, der seine Lebensgefährtin bei Pflegestufe II pflegte und mit Pflegegutachten des MDK eine wöchentlicher Hilfebedarf von mehr als 21 Stunden festgestellt wurde. Die zeitliche Verteilung des Hilfebedarfs war derart, dass auch keine Teilzeittätigkeit mehr ausgeübt werden konnte. Das Gericht führte aus:

Wenn die Ausübung einer Arbeit mit der Pflege eines Angehörigen nicht vereinbar ist und die Pflege nicht auf andere Weise sichergestellt werden kann, darf eine Eingliederungsvereinbarung nach § 16 SGB 2 nicht die Verpflichtung des Leistungsberechtigten zur Vorlage von Eigenbemühungen bzw. Bewerbungen, die in eine Arbeitsaufnahme münden, beinhalten.

Das Gericht ordnete mit dieser Begründung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen einen Sanktionsbescheid an. Es handelt sich aber immer um Einzelfallentscheidungen, d.h. man muss schauen, wie der Pflege-, bzw. Hilfebedarf des jeweiligen Angehörigen aussieht.

c
27.10.2016, 18:55 Uhr

Ja, schimpfen bringt tatsächlich in der Sache wenig, erleichtert allerdings die leidende Seele ungemein. Und die muß ja auch Berücksichtigung finden, nicht?

Mein Ärger resultiert auch hauptsächlich daraus - ich habe es ja schon gesagt -, daß die Grundfesten des Verwaltungsrechts und Verwaltungsverfahrens an Sozialgerichten anscheinend nicht bekannt sind. Immerhin ist das SGB X im wesentlichen ein Abklatsch des VwVfG, wenn auch dort einige Sonderregelungen zu finden sind, die so nicht im "normalen" Verwaltungsverfahren vorkommen.

(Welche, diese Anmerkung sei gestattet, zum Teil zweifelhaft insofern sind, als zu hinterfragen wäre, ob die jeweilige Abweichung von der normalen Regelung wirklich durch eine sachliche Ungleichheit gerechtfertigt werden können.)

Und auch wenn es, wie im beschriebenen Fall, um die rechtliche Bewertung einer EGV geht, und diese Bewertung wohl nicht in Gänze nach den Maßstäben des VwVfG zu leisten ist, ist dennoch meiner Meinung nach die Frage nach der Verhältnismäßigkeit - man mag im Bereich des BGB mit Sittenwidrigkeit übersetzen - so zentral, daß sie nicht übergangen werden kann und auch im Tenor der Entscheidung einigen Raum einnehmen müßte.

Die stattdessen immer wieder anscheinend schablonenhaft wiederholten Formulierungen wie "grundsätzlich zumutbar" oder "nicht erkennbar", die man landauf, landab in sehr vielen sozialgerichtlichen Entscheidungen liest, lassen meiner Meinung nach erkennen, daß man seitens des 'erkennenden' Gerichts eben nicht erkannt hat, was Sache ist. Stattdessen mogelt man sich um eine echte Ermittlung des Sachverhalts und die vollständige rechtliche Bewertung (unter Abwägung der Verhältnismäßigkeit) herum. Die von mir monierten Formeln sind hier sehr verräterisch.

Und: im vorliegenden Fall zwei Bewerbungen (davon eine initiativ, eine weitere auf eine konkrete Ausschreibung hin) pro Woche kann man schon für "grundsätzlich zumutbar" halten. 'Grundsätzlich' ist es auch zumutbar, jemandem aufzugeben, jeden Tag Spaghetti Bolognese zu kochen (und evtl. zu essen), wenn dieser dadurch die Übung bekommt, so gut Pasta kochen zu können, daß dies seine Chance vergrößert, sich erfolgreich als Koch in einem italienischen Restaurant zu bewerben. Bloß ist es eben nicht verhältnismäßig, denn selbst wenn man die Geeignetheit noch anerkennen könnte, wird es bei der Erforderlichkeit meiner Meinung nach schon enger. Und für die Angemessenheit steht es ganz schlecht, weil es ein für jeden denkenden Menschen erkennbar sinnloses Unterfangen ist, denn die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs dürfte ungefähr so groß sein wie ein Hauptgewinn im Lotto. Sinnlose Dinge von jemandem zu verlangen und mehr noch, sie zu erzwingen, und sei es durch einen oktroyierten "Vertrag" (EGV), verstößt aber gegen elementare Prinzipien, die sich auch - und nicht nur - im GG wiederfinden. Jedenfalls dann, wenn dies im Verhältnis Bürger-Staat geschieht.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
28.10.2016, 11:16 Uhr

Sehr geehrte(r) C.

dass die Sozialgerichte rechtlich ungenau arbeiten, kann ich nicht bestätigen. Die Bewerbungsobliegenheit ist ein gesetzliche Vorgabe, die die Sozialgerichte versuchen, umzusetzen. Dass Juristen zu Geeignetheit, Angemessenheit und Erforderlichkeit unterschiedlicher Meinung sein können und dürfen, ist bekannt. "Schreiendes Unrecht" ist eine Verlangen von Bewerbungen auf Teilzeitstellen sicher nicht. Es kommt auf die Anzahl an. Die Bewerbungsquote ist das "Fordern" des SGB II. Das Fordern wird gesellschaftlich erwartet. Es handelt sich um ein soziologisches Ritual. Die Gesellschaft erwartet, dass für Steuergelder ein Bemühen aktenkundig gemacht wird, sich in Zukunft selbst zu unterhalten. Ob die Bewerbungen faktisch Erfolg haben, ist von untergeordneter Bedeutung. Es genügt die geringste Erfolgsaussicht. Es gibt auch keine Höchstzahl von Bewerbungen. Bewerbungen zu schreiben in der sicheren Erwartung, dass man abgelehnt wird, ist nicht einfach. Jeder gesunde Mensch empfindet dies ab einer gewissen Dosis als persönliche Zurückweisung. Es hilft aber nichts, dieses Ritual wird von der Gesellschaft und vom Recht erst dann nicht mehr erwartet, wenn man in das Leistungssystem SGB XII wechselt, also "voll erwerbsgemindert" ist oder die Altersgrenze erreicht hat.

Müller
18.03.2017, 21:07 Uhr

..... aus meiner Erfahrung sind die Sozialgerichte nicht nur rechtlich ungenau sondern mitunter wird regelrecht Rechtsbruch begangen - Eilrechtschutzanträge dauern gerne mal in der Bearbeitung nicht Monate, sondern Jahre - eben um dann festzustellen das sich der Eilrechtsschutzgrund ja günstigerweise über die Zeit erledigt hat .... mein Erfahrungsschatz würde da Bücher füllen.

Das wie hier angeführt die Gesellschaft in diesem Zusammenhang - Pflegende Angehörige - quasi verlangt - das Leistungen der Gesellschaft also Steuergelder - auch einen entsprechenden Anspruch und vor allem eine Pflicht beinhalten aus diesem Anspruch wieder herauszukommen - liegt aus meiner Sicht an der üblichen Mentalität: betrifft mich nicht !! Und auch vor allem daran, dass die vorherrschende Meinung die ist - das für die Betroffenen - ob nun Pflegende oder Zu Pflegende - gesorgt ist.

Ich verhindere mit meiner Pflegetätigkeit der gepflegten Person im Pfegegrad 4 - alt Pflegestufe 3 - Pflege - und Betreungskosten in Höhe von monatlich 14.000 EUR, die ein Pflegeunternehmen bei gleicher Betreuung und Pflege berechnen würde!

Deswegen mein Aufruf an alle Pflegenden - Hocherhobenes Haupt - wer wenn nicht wir, hat das sich verdient und beweist sich immer wieder aufs Neue - wir sind keine Bittsteller.

Der richtige Weg ist aus meiner Sicht - den Herren Richter in der Gerichtsverhandlung einen Kostenvoranschlag eines Pflegeunternehmens für den Pflegeaufwand vorzulegen, sich den Zahlungsträger nennen zu lassen und dann - wenn die Pflege gesichert ist - gerne wieder im Berufsleben Fuss zu fassen.


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Veröffentlicht am

21.04.2015

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

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Der Artikel spiegelt die Rechtslage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder. Die Rechtslage kann sich jederzeit ändern.

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