Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat klargestellt, dass die Feststellung der Schwerbehinderung vor Gericht i.d.R. eine persönliche Begutachtung erforderlich macht. Verweigert jemand die Begutachtung, auch nach mehreren vorangegangenen Begutachtungen, kann die Schwerbehinderung nicht bewiesen werden.

Gutachter Schwerbehinderung

In dem entschiedenen Fall hatte das Versorgungsamt bei der Betroffenen einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt. Diese litt unter psychosomatischen Störungen, Gleichgewichtsstörungen, starken Kopfschmerzen, Wirbelsäulen, Funktionsbehinderung des Ellenbogengelenks, Ohrgeräuschen (Tinnitus), Bluthochdruck und einem Hämaturie-Syndrom.

Nachdem die Betroffene mit ihrem Widerspruch zwar einen GdB von 40 erreichen konnte, jedoch nicht die Schwerbehinderung, klagte sie vor dem Sozialgericht. Dort wurde durch das Gericht ein erstes Gutachten eines Orthopäden und Unfallchirurgen eingeholt. Dieser kam zu einem GdB von 40, empfahl aber eine weitere Begutachtung, um die psychosomatischen Beschwerden abklären zu lassen.

Das Gericht beauftragte daraufhin ein zweites Gutachten einer Fachärztin für Anästhesie. Diese kam zu einem GdB von 50 (Schwerbehinderung) und stellte eine Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerz (Einzel-GdB von 50 bis 60), ein HWS/LWS-Schmerzsyndroms (Einzel-GdB von 30 bis 40), eine Fibromyalgie (Einzel-GdB von 50 bis 70), eine rezidivierenden depressiven Störung (Einzel-GdB von 30 bis 40), eine generalisierten Angststörung (Einzel-GdB von 30 bis 40) und eine posttraumatischen Belastungsstörung (Einzel-GdB von 30 bis 40) fest.

Das Sozialgericht erließt daraufhin ein Urteil und verpflichtete das Versorgungsamt daraufhin zur Feststellung der Schwerbehinderung.

Das Versorgungsamt erkannte das Urteil jedoch nicht an und legte Berufung beim Landessozialgericht ein.

Das Landessozialgericht holte ein drittes Gutachten, wieder eines Facharztes für Anaesthesiologie ein. Dieser meinte, bei der Betroffenen läge kein über das übliche Maß hinaus gehende Schmerzgeschehen vor.

Daraufhin wollte das Landessozialgericht ein viertes Gutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie einholen.

Ermittlungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet sind dem Senat nicht möglich, da die Klägerin zu einer Untersuchung durch die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie [...] nicht bereit ist. Die Nichterweislichkeit der entscheidungserheblichen Tatsachen geht zu Lasten der Klägerin.

Die Betroffene teilte dem Gericht daraufhin mit, dass sie zu einer vierten Begutachtung nicht in der Lage sei. Trotz eines ausdrücklichen gerichtlichen Hinweises, dass ihr dadurch rechtliche Nachteile entstehen könnten, verweigerte sie die Begutachtung.

Das Landessozialgericht gab daraufhin der Berufung des Versorgungsamts statt. Es kritisierte, die zweite Gutachterin habe die Angaben der Klägerin unkritisch übernommen. So habe die Gutachterin die Schmerzangabe von 9,6 auf einer Schmerzskala von 0 bis 10 unkommentiert als „schwerster Schmerz“ übernommen, obwohl sie die Schmerzangabe mit den Alltagsaktivitäten abgleichen müsse. Schmerzen einer Intensität von 9,6 seien narkosepflichtig. Das Gericht könne nicht nachvollziehen, wie die Klägerin bei solchen Schmerzen keine Schmerzmedikamente einnehme und keine Fehlzeiten bei der Arbeit in Wechselschichten habe.

Da jedenfalls hinsichtlich der psychischen Erkrankung eine Feststellung des Einzel-GdB ohne Gutachten nicht möglich sei, sei auch die Bildung eines Gesamt-GdB nicht möglich. Das Urteil des Sozialgerichts sei daher aufzuheben.

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Kommentar:

Die Verweigerung von Begutachtungen, egal ob im Antrags-, Widerspruchs-, Klage- oder Berufungsverfahren führt in der Regel dazu, dass der Antrag mangels Mitwirkung abgelehnt wird. Zu einem Berufungsverfahren wie hier kommt es in Schwerbehinderungs-Angelegenheiten eher selten. Im Antragsverfahren findet zu 90 % keine persönliche Begutachtung statt, das Versorgungsamt lässt meist nur eine behördeninterne "Versorgungsärztliche Stellungnahme" erstellen. In Klageverfahren vor dem Sozialgericht reicht häufig ein Gutachten aus, die Einholung eines zweiten, ergänzenden Gutachtens ist aber gelegentlich notwendig. Die Begutachtungen dauern i.d.R. 1-2 Stunden.


Kommentare

K.
03.02.2020, 13:38 Uhr

Sehr interessanter Artikel. Ich befinde mich zur Zeit im Klageverfahren wegen des GdB. Nun wurde durch den Richter eine Begutachtung in einem "Institut für medizinische Gutachten" angeordnet, die aber ca. 5 Stunden dauern soll. Hier ist von 1-2 stunden die Rede. Muss ich das machen?

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
03.02.2020, 14:22 Uhr

Sehr geehrte Frau K., vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich nehme an, Sie meinen das MGI - Medizinisches Gutachten Institut - Hamburg, dieses wird regelmäßig von Sozialgericht Hamburg mit der Erstellung von Gutachten zum Grad der Behinderung beauftragt. Eine 5-stündige Begutachtung ist sicherlich die Ausnahme, aber durchaus möglich, je nachdem, um welches Fachgebiet es sich handelt. Es kann auch gut sein, das die Begutachtung durchaus nicht so lange dauert, wie angesetzt. Ihnen dann alles Gute und Erfolg im Gerichtsverfahren. Mit freundlichen Grüßen, RA Köper

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
27.08.2020, 16:41 Uhr

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat in einem anderen Berufungsverfahren festgestellt, dass im Falle der Verweigerung einer Begutachtung auch Leistungen nach SGB II ("Hartz 4") verweigert werden können. Auch in diesem Bereich sollte man daher vorsichtig sein mit der Ablehnung einer Begutachtung durch den ärztlichen Dienst. Allein die unterbliebene Zusendung des sogenannten Gesundheitsfragebogens im Vorfeld einer Begutachtung dürfte allerdings mit Rücksicht auf das Verhältnismäßigkeitsgebot nicht genügen, um Sozialleistungen zu versagen, dass sich hierbei lediglich um einem Anamnesebogen handelt, dessen Informationen im Rahmen des bei einer persönlichen Begutachtung ohnehin durchzuführenden Anamnesegesprächs auch direkt vom Arzt erfragt werden können. Der Gesundheitsfragebogen ist aher zur Begutachtung nicht zwingend erforderlich, sondern soll den Ärzten lediglich die Arbeit erleichtern.

D.
18.03.2022, 10:21 Uhr

Ich habe einen GDB von 70 und Klage auf das Merkzeichen G. Das Gericht folgt den Ausführungen des angestellten Arztes des Landkreises und fördert mich auf die Klage zurück zu nehmen. Es wurde von Seiten des Gerichts kein Gutachten angefordert.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
21.03.2022, 16:47 Uhr

Sehr geehrter Herr D., herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Versuchen Sie es noch einmal mit einem aktuellen Attest Ihrer behandelnden Arzte - idealerweise der Fachrichtung Orthopädie oder Chirurgie, in dem diese kurz erläutern, warum Sie außerstande sind, innerhalb von 30 Minuten eine Gehstrecke von 2.000 Meter zurückzulegen. Wenn Ihr Arzt der Ansicht ist, dass Sie dies nicht können und Ihnen dies bescheinigt, schreiben Sie dem Gericht, dass Sie nicht gedenken, die Klage ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens und nur nach Aktenlagebeurteilung durch einen Arzt des Versorgungsamts, der Sie nie gesehen hat, zurück zu nehmen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und alles Gute. MfG RA Köper

M.
19.05.2022, 17:29 Uhr

Sehr geehrter Herr Köper. Mir wurde nach meinen letzten Schuljahr wurde ich ohne das ich wusste einfach von verwanden in einer Behinderten Werkstatt empfohlen da ich nicht rein wollte ,da hatte mir gesagt ich Bräuchte keinen behindertenausweis beandragen aber dann wurde wurde ich in der werkstatt war ein Arzt da und hatte mich unter sucht und mir einfach einen Behinderung an gebracht ,obwohl ich überhaupt keine behinderung haben wurde mir ein Ausweiss aus gestellt der Gültig für immer 50Gdb. Jederandere Arzt sagt zu mir wieso ich eien Gebraucht haben und ich wollte hn auch nicht ich bin gern gesund laufe weiter strecken bin in der feuerwehr habe Atemschutz auch und da ich alles in ornung wie kann ich es machen denn Aus weiss wieder weg zu bringen das ich wieder normal bin.

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
20.05.2022, 09:51 Uhr

Lieber Herr M., herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Ich schlage vor, Folgendes zu überlegen: Der Schwerbehindertenausweis tut Ihnen nichts. Er kann Ihnen aber in vielen, vielen Jahren später mal sehr zum Vorteil dienen. Zum Beispiel können Sie dann irgendwann mal mehrere Jahre früher in Rente gehen. Und er bringt Steuervorteile. Da der Ausweis nur Vorteile bringt, aber keinerlei Nachteile und man ja nie weiß, was in der Zukunft auf einen zukommet, behalten Sie ihn besser. Stecken Sie ihn einfach in eine Schublade. Es gibt übrigens ganz viele Menschen, die einen Schwerbehindertenausweis haben und man sieht es ihnen überhaupt nicht an. Dass Sie ein großartiger Mensch sind, daran ändert der Ausweis ohnehin überhaupt nichts. Ich wünsche Ihnen alles Gute und weiter so! Großartig, dass Sie bei der Feuerwehr sind, ich könnte das körperlich nicht. Wir brauchen Leute wie Sie! MfG RA Köper

G.
14.09.2023, 17:01 Uhr

Sehr geehrter Herr Köper, haben Sie Dank für Ihre Beitragsseite. Darf ein Amtsarzt einen Antrag zur Feststellung auf Schwerbehinderung abweisen, ohne dass aus der gutachterlichen Stellungnahme hervorgeht, dass der Amtsarzt die vorgetragenen und durch Vorlage von medizinischen Dokumenten glaubhaft gemachten Krankheiten überhaupt zur Kenntnis genommen hat? Eine Untersuchung hat der Amtsarzt nicht durchgeführt, sondern hat nach Aktenlage entschieden. Die eingereichten ärztlichen Untersuchungsbefunde und Bescheinigungen hat der Amtsarzt anscheinend aber in weiten Teilen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Hierzu zählt eine Bescheinigung der Hausärztin aus 09/2022 für die Krankenkasse, in welcher das Vorliegen von mehreren schwerwiegenden chronischen Krankheiten einschl. der Diagnosen bescheinigt wurde (Polyarthrose, Spinalkanalstenose, chronisches Schmerzsyndrom usw.). Der langjährige Orthopäde ist in den Ruhestand eingetreten. Auch die Hausärztin ist seit Januar im Ruhestand. Gegen den ablehnenden Bescheid des Versorgungsamtes habe ich fristwahrend Widerspruch eingereicht und habe Antrag gestellt ein medizinisches Gutachten einzuholen. Allerdings habe ich Bedenken, ob das Versorgungsamt dem Antrag folgen wird. Denn auch andere Betroffene beklagten, dass das Versorgungsamt eingereichte Anträge immer wieder ohne nachvollziehbare Begründung abweisen würde. Deshalb hoffe ich, dass zumindest das Sozialgericht ein Gutachten anordnen wird. Allerdings fühle ich mich mit dem Vorgang allmählich überfordert. Ist es zulässig, dass Amtsärzte Anträge wegen Feststellung der Schwerbehinderung abweisen, ohne dass ersichtlich ist, dass der Amtsarzt die vorgetragenen und glaubhaft gemachten Krankheiten und Beeinträchtigungen sachlich geprüft bzw. überhaupt zur Kenntnis genommen hat?

Rechtsanwalt David A. KöperRA Köper
15.09.2023, 17:01 Uhr

Sehr geehrte Frau G., vielen Dank für Ihren Beitrag. In der Praxis ist es so, dass in den Versorgungsämtern die allermeisten sozialmedizinischen Stellungnahmen nach Aktenlage abgegeben werden. Eine persönliche Einbestellung und Untersuchung der Antragsteller durch die Behörde ist äußerst selten. Die medizinischen Prüfungen in den Versorgungsämtern finden ähnlich wie beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen weitaus überwiegend vom Schreibtisch aus statt.

Auf eine persönliche Untersuchung durch die Ärzte des Versorgungsamts besteht weder im Antragsverfahren, noch im Widerspruchsverfahren ein Rechtsanspruch. Diese Prüfungen nach Aktenlage werden von den Gerichten grundsätzlich nicht beanstandet, führen aber auch häufig zu Fehlbewertungen.

Die Ärzte der Versorgungsämter sind nicht verpflichtet, nachzuweisen, in welcher Weise sie die geltend gemachten Gesundheitsstörungen und eingereichten medizinischen Berichte geprüft haben. Die Prüfung durch die Beratungsärzte ist insoweit ein nicht genau nachvollziehbarer und nicht rechtsmittelfähiger, behördeninterner Vorgang. Die sozialmedizinischen Stellungnahmen selbst sind auch keine Verwaltungsakte, gegen die man Widerspruch erheben könnte. Rechtsmittelfähig sind nur die Verwaltungsentscheidungen, bzw. Bescheide, die das Versorgungsamt (oder die Krankenkasse) auf Grundlage der sozialmedizinischen Stelungnahmen ihrer ärztlichen Dienste erlässt. Wird ein Widerspruch zurückgewiesen und klagt man daraufhin vor dem Sozialgericht, wird bei medizinischen Sachverhalten in der Regel ein Sachverständigengutachten eingeholt. Im Zuge gerichtlich angeordneter Begutachtungen findet dann üblicherweise auch eine persönliche Untersuchung statt. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr Verfahren. MfG RA Köper


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Veröffentlicht am

03.06.2016

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

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