Leider herrscht bei vielen ÄrztInnen aufgrund der AU-Richtlinie der Irrtum, man sei bezüglich der Attestierung der Arbeitsunfähigkeit und der Diagnoseschlüssel an die Meinung des MDK oder der Krankenkasse gebunden. Dies ist nicht der Fall.

Begutachtung Arzt

Als Ärztin oder Arzt sind bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit weder berufsrechtlich noch krankenversicherungsrechtlich an Weisungen der Krankenkasse oder des MD(K) gebunden. Sie können selbst nach eigener fachlicher Einschätzung frei beurteilen, ob ein Patient AU ist oder nicht und welche Diagnose Sie stellen (Ärztliche Weisungsfreiheit). Dies gilt unabhängig davon, ob sie vertragsärztlich eingebunden sind oder nicht.

Zwar heißt es in § 6 Abs. 2 Satz 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss), Stand 1. Oktober 2021: "Das Gutachten des Medizinischen Dienstes ist grundsätzlich verbindlich". Dies bedeutet juristisch jedoch nicht, dass die Ärzte dem MD(K) in ihrer Einschätzung folgen müssen, wie sich sogleich aus dem nächsten Satz des § 6 Abs. 2 Satz 2 AU-RL ergibt: "Bestehen zwischen der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt und dem Medizinischen Dienst Meinungsverschiedenheiten, kann die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt unter schriftlicher Darlegung von Gründen bei der Krankenkasse eine erneute Entscheidung auf der Basis eines Zweitgutachtens beantragen."

T I P P: Rechts finden Sie einen Muster-"Widerspruch" (i.S.d. der AU-RL) für Ärzte zur Verwendung gegenüber der Krankenkasse sowie ein Muster-Widerspruch für Patienten/Versicherte gegen Krankengeld-Einstellungsbescheide. Idealerweise werden beide Formulare parallel von Arzt und Patient der Krankenkasse übermittelt.

Die behandelnden Ärzte können mithin ohne rechtliches Risiko hinsichtlich der AU eine vom MDK abweichende Meinung vertreten und weiter Arbeitsunfähigkeit attestieren. Auch hinsichtlich der Diagnosestellung sind die Ärzte in ihrer fachlichen Einschätzung frei. Die Vertragsärzte sind auch keineswegs verpflichtet, bei einer abweichenden Meinung "unter schriftlicher Darlegung von Gründen" ein "Zweitgutachten" zu beantragen. Die Ärzte können sich schlicht darauf beschränken, medizinisch anderer Meinung zu sein, als der MDK und weiterhin AU in der Weise zu attestieren, wie sie es für richtig halten. Das Einlegen eines förmlichen Widerspruchs gegen die Krankengeldeinstellung ist Sache des Versicherten, nicht der Ärzte.

Patienten/Versicherten sollte im Zweifelsfall empfohlen werden, anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, da die Krankengeldzahlung sehr häufig rechtswidrig eingestellt wird. So liegt die hiesige Erfolgsquote von Widersprüchen gegen die Krankengeldeinstellung wegen angeblich mehr bestehender AU bei weit über 50 %. Dies liegt häufig an Schwächen der MD(K)-Gutachten oder SFBs und fehlender Berücksichtigung des Berufsbildes.

Leider kommt es in praxi durchaus zu Versuchen der Krankenkassen, Druck auf die Ärzte auszuüben.

Nicht selten berichten Mandanten, die Krankenkasse habe in der Arztpraxis angerufen und unter Androhung der Krankengeldeinstellung und Hinweis auf den MD(K) gefordert, die weitere Krankschreibung zu beenden oder den Diagnoseschlüssel zu ändern. Dies ist absolut unzulässig. Denn es gibt hierzu weder eine berufsrechtliche, noch krankenversicherungsrechtliche Gesetzesgrundlage. Eine solche Einschränkung der ärztlichen Weisungsfreiheit bedürfte einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Die AU-Richtlinie auf Verordnungsebene genügt hierzu nicht.

Behandelnde Ärzte sind jedoch ebenso wenig den Weisungen der Krankenkasse oder des MDK unterworfen, wie die Ärzte des MDK den Weisungen der Krankenkasse (§ 275 Abs. 5 SGB V: "Die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes sind bei der Wahrnehmung ihrer fachlichen Aufgaben nur ihrem Gewissen unterworfen. Sie sind nicht berechtigt, in die Behandlung und pflegerische Versorgung der Versicherten einzugreifen").

Dass es "objektive Fehlbeurteilungen der Arbeitsunfähigkeit" sowohl durch die behandelnde Ärzte, als auch durch Ärzte des MD(K) gibt, hat das Bundessozialgericht schon vor Jahren klargestellt (BSG, Urteil vom 08. November 2005 – B 1 KR 30/04 R –, BSGE 95, 219-232, SozR 4-2500 § 46 Nr 1, Rn. 15). Nach dem vorgenannten, wichtigen BSG-Urteil fallen die "objektive Fehlbeurteilung eines an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Arztes und des MDK ... in den Verantwortungsbereich der Krankenkasse." Liegt jedoch nach Ansicht der behandelnden Ärzte eine Fehlbeurteilung durch den MDK vor, gibt es auch keinen Anlass, dieser zu folgen.

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen haben ferner nach der Rechtsprechung des BSG lediglich "die Bedeutung einer gutachtlichen Stellungnahme..., ohne dass Krankenkasse und Gerichte an den Inhalt der ärztlichen Bescheinigung gebunden sind". Dies bedeutet im Umkehrschluss: Jede Ärztin und jeder Arzt kann nach seiner eigenen fachlichen Einschätzung frei entscheiden, ob er eine AU-Bescheinigung ausstellt oder nicht und unter welcher Diagnosestellung (Ärztliche Weisungsfreiheit). Krankenversicherungsrechtlich ist weder die Einschätzung der behandelnden Ärzte, noch der Ärzte des MD(K) bindend, aber im Falle eines Rechtsstreits (z.B. Widerspruchs- oder Klageverfahren der Versicherten) sehr wohl zu berücksichtigen.

Zu beachten ist ferner: Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen nach statistischen Angaben derzeit (Stand Januar 2022) monatlich ca. 1,1 Milliarden Euro Krankengeld aus und stehen daher unter einem nicht unerheblichen Kostendruck. Auch die Diagnosecodierung hat eine nicht unerhebliche statistische Bedeutung für die Finanzierung der Krankenkassen. Von daher erklärt sich, dass seitens der Krankenkassen ein Fehlanreiz bestehen kann, Einfluss auf die Ausstellung von AU-Bescheinigungen zu nehmen, etwa durch Anrufe in den Arztpraxen. Mit Einführung der eAU dürfte diese Praxis meiner Einschätzung nach eher zunehmen. Die Krankenkassen fürchten geradezu die Entbürokratisierung durch Entfall der "gelben Zettel", da dies die Leistungsfallzahlen insgesamt erhöhen könnte.

Üblich ist ferner bekanntermaßen die Übersendung einer "Mitteilung/Information des MDK an den behandelnden Arzt". Darin wird mitgeteilt, dass und zu wann der MDK die Arbeitsunfähigkeit als beendet ansieht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dies auf Behandlerseite ebenso gesehen werden muss. Weiter heißt es mitunter in den Formularen des MD(K): "In dem beigefügten Arztfragebogen, der an die Krankenkasse zurückgesandt werden kann, können Sie medizinische Gründe anführen, die eine Fortsetzung der Arbeitsunfähigkeit rechtfertigen, falls Sie sich nicht der Gutachtermeinung [des MDK] anschließen können" oder "Sollten sich aus Ihrer Sicht andere Gesichtspunkte ergeben, bitten wir um eine ergänzende Mitteilung...". Auch dies bestätigt, dass die Vertragsärzte bei der AU-Beurteilung eine vom MDK abweichende Meinung vertreten und auch weiterhin AU-Bescheinigungen ausstellen können. Dabei hilft jeder Arzt seinem Patienten im Krankengeld-Rechtsstreit sehr, wenn er seine fachliche Einschätzung - und sei es auch nur kurz - gegenüber dem MDK begründet. Denn für die Versicherten geht es häufig um die Sicherstellung des Lebensunterhalts im Krankheitsfall.


Kommentare


Seien Sie die erste Person, die einen Kommentar zu diesem Artikel abgibt.


Kommentar schreiben

Veröffentlicht am

11.01.2022

Autor

Rechtsanwalt David Andreas Köper aus Hamburg Rechtsanwalt David Andreas Köper

Hinweis

Der Artikel spiegelt die Rechtslage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder. Die Rechtslage kann sich jederzeit ändern.

Urheber

© Rechtsanwalt Köper (Gilt nicht für gekennzeichnete Pressemitteilungen, Medieninformationen und Gerichtsentscheidungen)

Bildnachweis

© Fotolia/M.Dörr & M.Frommherz

Downloads